Chirurgie auf eigenes Risiko (oder: Die Kehrseite des Skalpells)

OGH 31.01.2024, 3 Ob 206/23z

Die ärztliche Aufklärungspflicht stellt eine wesentliche Pflicht des Arztes dar. Darunter versteht man die Verpflichtung des Arztes, Patienten vor Behandlungsbeginn über die wesentlichen Umstände, Risiken und Folgen der vorgesehenen Behandlung, deren Unterlassung (oder auch über Behandlungsalternativen!) aufzuklären, dies unabhängig davon, ob ein Behandlungsvertrag abgeschlossen wurde. Oft stellt sich die Frage, wie sich eine Verletzung der Aufklärungspflicht auf die Haftung des Arztes konkret auswirken kann.

Genau damit befasste sich der OGH in seinem Urteil vom 31.01.2024 (3 Ob 206/23z). Der Kläger litt an einer sogenannten Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, eine häufige Fehlbildung bei Neugeborenen. Um die Lippen-Kiefer-Gaumenspalte zu beheben, sind folgende Eingriffe notwendig: Lippenverschlussplastik, Gaumenspaltenplastik und Osteoplastik. Die Gaumenverschlussplastik kann in einem einzigen („einzeitig“) oder in zwei („zweizeitig“) Eingriffen vorgenommen werden. Oftmals kann erst während der Operation entschieden werden, ob der Verschluss des weichen und harten Gaumens in einem Vorgang möglich ist. Im Alter von vier Monaten wurde beim Kläger bereits eine komplikationslose Lippenverschlussplastik durchgeführt, und im Anschluss daran die Gaumenspaltplastik. Die Eltern des Klägers wünschten bei der zweiten OP einen zweizeitigen Verschluss, das bedeutet, dass vorerst nur der weiche Gaumen verschlossen werden hätte sollen. Sie erklärten ihre Einwilligung in diese Behandlung („Verschluss weicher Gaumen“) einschließlich aller sich während der Behandlung als notwendig ergebenden Eingriffe. Nach der Operation wurden die Eltern freilich davon in Kenntnis gesetzt, dass – entgegen ihrer Einwilligung – ein einzeitiger Verschluss durchgeführt wurde.

Obwohl die Gaumenverschlussplastik lege artis und in einer üblichen Operationstechnik durchgeführt wurde, kam es zu Komplikationen. Der Kläger musste neuerlich intubiert und auf die Intensivstation verlegt werden. In weiterer Folge waren eine Intensivbehandlung, Betreuung und Rehabilitation notwendig.

Aufgrund der Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht begehrte der Kläger Schadenersatz und die Feststellung der Haftung. Während das Erstgericht noch der Ansicht war, dass die unterbliebene Aufklärung nicht kausal war für die entstandenen Schäden und damit die Haftung verneinte, folgte der OGH der Ansicht des Berufungsgerichts, demzufolge das Begehren zu Recht bestehe, da es sich um einen rechtswidrigen Eingriff handelt, der kausal war für den eingetretenen Schaden.

Dieser Fall verdeutlicht, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten absoluten Vorrang genießt. Der Umstand, dass die gleiche schicksalhaft eingetretene Komplikation auch bei einem Eingriff, in den eingewilligt wurde, auftreten hätte können, befreit den Arzt bzw. Krankenhausträger nicht von seiner Haftung. Selbst wenn der Eingriff medizinisch indiziert war und lege artis durchgeführt wurde, handelt es sich dann, wenn eine Einwilligung fehlt, um eine rechtswidrige Behandlung, für deren Folgen auch bei pflichtgemäßem Handeln gehaftet wird.

15.02.2024

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