Mit Erkenntnis vom 25. Juni 2025 (GZ Ro 2023/13/0020, RIS) hat der Verwaltungsgerichtshof eine für die abgabenrechtliche Haftungspraxis richtungsweisende Entscheidung getroffen. Im Zentrum stand die Frage, ob ein Prokurist einer GmbH als „Vertreter“ im Sinne der §§ 80 ff BAO zu qualifizieren ist und damit nach § 9 Abs 1 BAO persönlich für uneinbringliche Abgaben der Gesellschaft haftbar gemacht werden kann.
Der Revisionsfall betraf einen Prokuristen einer im Fertigteilhausbau tätigen GmbH, über die im Jahr 2015 ein Sanierungsverfahren und in der Folge ein Konkursverfahren eröffnet wurde. Nach Aufhebung des Konkurses im Jahr 2019 und Löschung der Gesellschaft im Firmenbuch nahm das zuständige Finanzamt den ehemaligen Prokuristen zunächst mit Bescheid vom 29. Oktober 2019 gemäß § 9 iVm §§ 80 ff BAO für Abgabenschulden der Gesellschaft der Jahre 2014 und 2015 in Haftung.
Das Bundesfinanzgericht (BFG 24.04.2023, RV/2100215/2023) hob den Haftungsbescheid auf. Es vertrat die Auffassung, ein Prokurist sei kein zur Vertretung juristischer Personen berufener Vertreter im Sinne des § 80 BAO und könne daher nicht nach § 9 BAO in Anspruch genommen werden. § 83 BAO, auf den sich die Behörde berufen hatte, regle bloß das Vertretungsrecht vor der Abgabenbehörde, ohne eine haftungsbegründende Wirkung zu entfalten. Gegen dieses Erkenntnis erhob das Finanzamt Amtsrevision.
Der Verwaltungsgerichtshof erklärte diese Revision für zulässig und begründet. Der Verwaltungsgerichtshof stellte klar, dass die Haftung nach § 9 Abs 1 BAO nicht auf gesetzliche Vertreter im engeren Sinn beschränkt ist. Maßgeblich sei der Wortlaut der Bestimmung, wonach sämtliche in den §§ 80 bis 83 BAO genannten Vertreter – und somit auch gewillkürte Vertreter – potenzielle Haftungsadressaten seien. Zur Begründung zog der Gerichtshof eine historische Auslegung heran. Die Bestimmung des § 9 BAO gehe unmittelbar auf § 109 der Reichsabgabenordnung 1931 (AO 1931) zurück, welche ausdrücklich auch „Bevollmächtigte und Verfügungsberechtigte“ erfasst habe. Der Gesetzgeber habe bei Erlass der BAO 1961 bewusst die Haftungsmöglichkeit für solche Vertreter beibehalten, wenngleich diese Haftung als reine Ausfallshaftung ausgestaltet worden sei (ErlRV 228 BlgNR 9. GP 56 f).
Teleologisch folgerte der Verwaltungsgerichtshof, dass die Haftungsbestimmung des § 9 BAO dem Zweck diene, die Einbringlichkeit der Abgaben zu sichern und jene Personen in die Verantwortung zu nehmen, die faktisch oder rechtlich Einfluss auf die Erfüllung steuerlicher Pflichten haben. Diese Zielsetzung spreche gegen eine enge, nur auf Geschäftsführer beschränkte Auslegung. Zudem verwies der Gerichtshof auf einschlägige Literaturmeinungen, welche die weite Auslegung stützen.
Der Verwaltungsgerichtshof hob das angefochtene Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts (§ 42 Abs 2 Z 1 VwGG) auf. Er hielt fest, dass auch Prokuristen als „in den §§ 80 ff BAO bezeichnete Vertreter“ als Haftungsschulder in Betracht kommen und daher – bei schuldhafter Pflichtverletzung – nach § 9 BAO haftbar gemacht werden können.
Diese Entscheidung erweitert den Kreis der haftungsadressierten Personen im Abgabenrecht erheblich. Künftig können nicht nur Geschäftsführer, sondern auch Prokuristen und andere mit steuerlichen Aufgaben betraute Bevollmächtigte in die persönliche Haftung einbezogen werden, wenn sie durch schuldhafte Pflichtverletzung die Einbringung von Abgaben vereiteln.
Für Unternehmen bedeutet dies die Notwendigkeit, die internen Zuständigkeiten im Bereich der steuerlichen Agenden klar zu dokumentieren, Kontroll- und Berichtspflichten zwischen Geschäftsführung und Prokura zu definieren und Vollmachten im steuerlichen Bereich präzise abzugrenzen, um Haftungsrisiken zu minimieren. Für Prokuristen ergibt sich daraus eine auch eine ganz erhebliche Sorgfaltspflicht: Wer mit steuerlichen Agenden betraut ist, muss die rechtzeitige und vollständige Abgabenentrichtung sicherstellen und im Fall von Liquiditätsengpässen umgehend die Geschäftsführung informieren. Unterlässt er dies schuldhaft, droht eine persönliche Haftung.
Für Unternehmen mit komplexen Unternehmensstrukturen empfiehlt es sich, die Vertretungsregelungen in Gesellschafts- und Prokuraordnungen zu überprüfen und steuerliche Verantwortlichkeiten eindeutig festzulegen. Bei drohender Zahlungsunfähigkeit sollte eine unverzügliche Abstimmung zwischen Geschäftsführung, Prokuristen und Steuerberatung erfolgen, um eine persönliche Haftung auszuschließen.
VwGH 25.06.2025, Ro 2023/13/0020
02.10.2025